
Vorweggenommen: ich gehe davon aus, dass wir uns einig sind, dass wenn man stottert, man es durchgängig in allen uns bekannten Sprachen tut. Dafür brauche ich keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, auch wenn es die zu Hauf gibt, das habe ich bei meinen allerersten Versuchen, Fremdsprachen in freier Wildbahn zu sprechen, sofort mit dem Holzhammer zu spüren bekommen.
Zweitens: bei meiner Definition von Mehrsprachigkeit meine ich JEDE Form von Mehrsprachigkeit, also nicht nur die mehrsprachige Lebensrealität oder eine bilinguale Erziehung, sondern ebenso das nachträglich durch Auslandsaufenthalte aufgepeppte Schulenglisch oder den Erwerb irgendwelcher anderen Sprachen, die man dann in sein Leben integriert hat.
Nun zu meiner interessanten Beobachtung: Ich unterhielt mich letztens mit meiner Tochter und ihrer Freundin und wollte das Wort "professionell" benutzen, als ich kurz davor ein ganz starkes Gefühl hatte, dass das aber jetzt in die Hose gehen würde. Ich weiß auch nicht mehr genau, was ich gemacht habe, wenn ich mich recht erinnere, habe ich es irgendwie durch Einschub von Füllwörtern aufgeschoben und dann irgendwie gesagt, ich hatte jedoch anschließend das Gefühl: huch, das hatte ich bei dem Wort ja noch nie. Es ergab sich im Zusammenhang mit demselben Thema, dass ich das Wort schon einen oder wenige Tage später zu anderen Personen noch mal sagen musste und: wieder dieselbe Empfindung, wieder irgendwelche automatisierten Maßnahmen.
Ich hatte es fast schon wieder vergessen, als ich mich einige Tage später auf dem Weg zu einem Gerichtstermin mit meinem Kollegen in Türkisch unterhielt. Diesmal ging es um Berufsrichter (eben Professionelle) und Schöffen. Ich sagte das Wort professionell (profesyonel) auf Türkisch und - nichts, alles wunderbar. Und das - muss ich dazu sagen - obwohl ich seit dem Zusammentreffen mit meinem Kollegen am Morgen schon mehrfach gestottert hatte.
Nun war ich hellhörig geworden und dachte mir, das muss ich noch mal ausprobieren. Ich habe dann am nächsten Tag bei meiner deutschen Freundin das Thema mit meiner Tochter noch einmal erörtert und - wieder dieses starke Gefühl, wieder konnte ich das Wort nicht richtig sagen.
Nun stellt sich mir die Frage, was - außer der etwas anderen Aussprache - an dem Wort im Deutschen anders ist als im Türkischen. Es ist in beiden Sprachen ein Fremdwort, das jedoch dieselbe Lautkonstellation aufweist (abgesehen von der Tatsache, dass im Türkischen das /r/ als Zungen-r gebildet wird und ich im Deutschen das Zäpfchen-r benutze).
Schon länger mache ich mir Gedanken darüber, was ist anders am Stottern in der einen wie in der anderen Sprache. Denn es ist nicht identisch, das weiß ich.
Deutsch ist meine Muttersprache, und wenn ich eine eigene Einschätzung meiner Kompetenz vornehmen sollte, würde ich sagen: ich beherrsche es zu 98%.
2% Abweichung halte ich für realistisch, vielleicht sind es auch 3 oder 4, das sehe ich immer dann, wenn ich einem medizinischen Gutachten folgen und es dann übersetzen soll, wenn ich einen Notarvertrag vorliegen habe oder wenn Paul sich mit djub über Statistiken unterhält

Türkisch habe ich als Fremd- nicht als Zweitsprache im Alter von 15 Jahren erworben, ich spreche es seit 35 Jahren und würde mir nach eigener Einschätzung eine Kompetenz von 92-95% zugestehen. Die fehlenden Prozente betreffen Themen, mit denen ich selten zu tun habe, islamische Exegese, bestimmte technische Begriffe etc.
Berufsbedingt habe ich täglich mit beiden Sprachen zu tun und halte mich sprachlich für up-to-date. Dennoch gibt es Unterschiede in beiden Sprachen bezogen auf Stotterhäufigkeit und -auslöser.
- Generell kann ich konstatieren, dass es im Deutschen viel mehr Wörter gibt, bei denen ich spontan sagen könnte, sie bereiten mir aufgrund der Lautkonstellation Schwierigkeiten und unterbrechen meinen Redefluss mitten im Satz, weil ich irgendwelche Maßnahmen ergreifen muss.
- Ich habe mal das Türkische auf solche Wörter abgeklopft und komme auf nur wenige Wörter, die mir allein von der Lautkonstellation her Probleme bereiten würden, und die wenigen, auf die ich komme, sind im Türkischen Lehnwörter aus anderen Sprachen. Nur eine grammatikalische Form ist mir von Anfang an als stotteranfällig aufgefallen (gitmememiz gerekir), und ich bin letztens Zeuge geworden, wie sich selbst mein muttersprachlicher nicht stotternder Kollege fürchterlich darin verheddert hat.
- Dennoch habe ich im Deutschen viel seltener das Gefühl, dass sich mir kleine, diffuse Sprechhindernisse in den Weg stellen, die da sind, aber nicht hörbar werden (das habe ich häufiger am Telefon oder wenn ich Smalltalk mit Unbekannten führe)
- Diese Hindernisse spüre ich im Türkischen viel häufiger auch während der Kommunikation mit Bekannten oder Kollegen, allerdings kaum beim Dolmetschen
- Im Deutschen sind es bestimmte Anlaute, bei denen ich meine Konzentration erhöhen muss, um nicht ins Stottern zu kommen (was auch situationsbedingt stark variiert)
- Im Türkischen (und das ist mir bei allen anderen Sprachen, die ich im Leben gelernt habe, ebenso aufgefallen), sind die anfälligsten Anlaute die nicht muttersprachlichen Laute (also z.B. Zungen-r als Anlaut oder im Englischen und Kurdischen bilabiales /w/); ansonsten sind es dieselben Anlaute wie im Deutschen, allerdings durch die andere Häufigkeit in der Alltagssprache auch in einer anderen Häufigkeit (z.B. gibt es im Türkischen wenige Wörter mit /n/ als Anlaut außer Fragewörter, während es im Deutschen Häufungen einsilbiger Wörter auf /n/ wie "nur noch nicht" gibt, die bei mir leicht aus dem Ruder geraten
- Im Deutschen ist es mir - ehrlich gesagt - egal, wie ich rede, weil eigentlich niemand an meiner sprachlichen Kompetenz zweifelt und jeder wissen müsste, dass wenn ich Kuddelmuddel produziere, das NICHT mit meiner mangelnden sprachlichen Kompetenz zu tun hat, sondern allenfalls mit Stottern
- Im Türkischen ist es mir eigentlich nicht so egal, wie ich rede, weil ich immer wieder beweisen muss, dass ich sprachlich kompetent bin und ich eigentlich kein Kuddelmuddel produzieren möchte, weil die meisten es dann auf meine mangelnde sprachliche Kompetenz schieben würden und nicht auf Stottern
Dass ich hier Türkisch als Sprache angeführt habe, ist nur exemplarisch, auch wenn ich mir wünschte, dass sich auch Leute mit türkischem "Migrationshintergrund"

Ich würde mich aber auch freuen, wenn Leute mit irgendwie anders gearteter Mehrsprachigkeit mal Äußerungen zu ihren Empfindungen und Einschätzungen vornehmen würden. Es ist noch lange nicht alles gesagt, aber so etwas könnte sich ja aus einer Diskussion entwickeln!
Also geht mal in euch und äußert euch!
