Beitrag
von Bettina » 10. Januar 2012 00:15
Liebe Mariachi,
nun hat es wegen der Feiertage doch etwas länger mit der Bearbeitung Ihrer Anfrage gedauert und wir bitten das zu entschuldigen.
Im ersten Schritt der Bearbeitung Ihrer Anfrage möchte ich in eigenen Worten zusammenfassen, wie ich den Werdegang Ihres Sohnes A. verstanden habe. Denn erst einmal ist wichtig, dass wir einen gemeinsamen „Nenner“ an Informationen haben, auf den wir uns beziehen können. Sollte ich unsicher sein, ob ich etwas richtig verstanden habe, lasse ich Sie das wissen und Sie können jederzeit mittels einer neuen anfrage im Forum (was uns am liebsten ist) oder auch über den PN-Button (Persönliche Nachricht – was auch möglich ist, nur ist dann das Forum ausgeschlossen) Fakten genauer erklären und/oder neue Fragen stellen.
Im zweiten Schritt habe ich eine Fülle an Informationen und Stichwörtern für Sie und diese haben zum Ziel: mehr Sicherheit für Sie im Umgang mit Ihrem Sohn und dadurch bestmögliche Unterstützung Ihres Kindes und bestmögliche Entscheidungshilfe für das weitere Vorgehen.
Seit er 2 Jahre alt ist, wird Ihr Sohn A. immer wieder mal logopädisch betreut und ursprünglich wurde damit begonnen weil er wenig gesprochen hat und beim Sprechen gehemmt wirkte.
Jetzt als Erstklässler betont er manchmal ungewöhnlich, macht Pausen zwischen den Wörtern und in den Wörtern, verwendet für ein Kind in seinem Alter eher ungewöhnliche Wörter („Wagen“ statt „Auto“, „Gemälde“ statt „Bild“ beispielsweise oder eben das von Ihnen beschriebene „benötige“ statt „brauche“), die dann wie auswendig gelernt rüber kommen, er wirkt, als suche er oft nach Wörtern und er atmet vor oder in einem Wort hörbar ein. Neu ist ein Verdrehen und Zwinkern der Augen mit gleichzeitiger Verflüssigung des Sprechens.
Das sind die Informationen nochmals in eigene Worte gefasst, die mir aufgrund Ihrer Anfrage im Forum vorliegen. Kommen wir nun zum zweiten Teil meiner Beantwortung.
Der Vollständigkeit halber möchte ich an dieser Stelle sagen, dass es bei Kindern während der Sprachentwicklung zu vielen verschiedenen „Auffälligkeiten“ kommen kann. Dazu gehören unter anderem auch Wortfindungs- und Wortabrufprobleme, die unter bestimmten Voraussetzungen logopädisch behandelt werden. Nun bin ich dafür nicht die Fachfrau, mein Fachwissen liegt zum großen Teil im Bereich Stottern.
Bezogen auf die Art, wie Sie A.s Sprechen beschrieben haben, möchte ich Ihnen nun eine Reihe von Informationen das Stottern betreffend geben.
Kinder beginnen im Alter zwischen 2 und 12 Jahren mit Stottern, bei manchen ist es ein schleichender Prozess, die sprachentwicklungstypisch völlig normalen Wortwiederholungen („Ich – ich – ich – ich bin jetzt aber dran.“) wollen beispielsweise nicht weggehen und verändern sich in Richtung eines Stotterns. Manche Kinder beginnen mit dem Stottern wie aus heiterem Himmel, ein hochemotionales Erlebnis kann ein Auslöser sein. Übrigens aber nicht die Ursache. Mit der Anlage, irgendwann im Laufe seines Lebens ein Stottern zu entwickeln, wird man geboren. Diese Anlage muss vorhanden sein, sonst entwickelt sich kein Stottern. Am Stottern ist also nie ein elterliches Verhalten oder irgendein Erlebnis schuld.
Stottern wird erst einmal wie folgt beschrieben: Dehnungen („Aaaaaaaaauto“), Wiedeholungen („A-a-a-a-a-a-auto“) oder Blockierungen („A---------------uto“) in mehr als 3% der gesprochenen Silben. Wenn ein Kind also spricht: „Mmmmmmeine Mama hat das Au-au-auto g-------ebraucht, damit sie mein Ge-ge-ge-geschenk aus der Stadt hoooooolen ko-ko-ko-konnte.“, dann ist dieser Satz eindeutig gestottert. Übrigens stottert jedes Kind im Laufe seiner Sprachentwicklung phasenweise und in den meisten Fällen (in ca. 60-80%) gibt sich das innerhalb von bis zu 6 Monaten wieder von alleine. Das Stottern, welches ich gerade beschrieben habe, nennt man auch „Kernstottern“.
Oft gesellt sich zum Kernstottern aber noch eine so genannte Begleitsymptomatik. Die Kinder entwickeln diese, um ihre unflüssige Sprechweise irgendwie zu kontrollieren, um sich flüssiger zu halten, um ihr Stottern zu verdecken. Jeder stotternde Mensch, der solche Begleitreaktionen auf sein Stottern entwickelt, tut dies auf individuelle Art und Weise. Hier einige Beispiele:
- mit dem Kopf nicken
- die Hände auf die Beine schlagen
- mit dem Oberkörper nach vorne gehen
- den Kopf in den Nacken werfen
- mit den Augen zwinkern, blinzeln
- ungewöhnliche Zungenbewegungen, Lippenbewegungen
- auffällige Atmung: die Wörter auf der Restluft herauspressen, Einatmen vor oder während eines „gefährlichen“ Wortes, hüsteln, räuspern
- Füllwörter wie „ähhh“
- Bestimmte Floskeln („wie soll ich sagen...“, „im Grunde genommen...“, „naja“, „halt“)
- Auswendiglernen von Sätzen, Satzteilen
- Ersatzwörter für als besonders schwierig empfundene Wörter finden und verwenden
Oben verwendeter Satz (Kernstottern) könnte von einem Stotternden, der konsequent Begleitsymptomatik anwendet, beispielsweise folgendermaßen klingen:
„(Augenzwinkern)Meine Mama hat den Wagen (statt „Auto“) benötigt, damit sie mein Ge (Einatmen)schenk aus der Stadt (Pause) holen (Einatmen) konnte.“
Kein Wort ist gestottert und dennoch ist es ein gestotterter Satz.
Im Hinblick auf diese Informationen sind wir uns wahrscheinlich in der Sache einig, dass es Ihnen und Ihrem Sohn tatsächlich gut tun würde, von einem Profi in Sachen kindliches Stottern auf Sprechunflüssigkeiten untersucht zu werden. Denn es könnte durchaus sein, dass das Grundproblem Ihres Sohnes ein kindliches Stottern ist.
Aus meiner Arbeitspraxis kenne ich Kinder, die irgendwie versuchen, ihr Stottern mit Begleitsymptomatik zu kontrollieren, zu verstecken. Ich kann das verstehen. Immer und immer wieder verliert das Kind über sein Sprechen die Kontrolle, die Wörter stecken im Hals fest, wollen nicht raus, man muss sich beim Sprechen konzentrieren, anstrengen, der Frust steigt massiv, das Selbstwertgefühl sinkt. Viele Kinder sind der Meinung, es geht nur ihnen so und sie stehen mit diesem Problem alleine da. Auch schon sehr kleine stotternde Kinder suchen von sich aus selbst nach Lösungen für ihr Problem. Man nennt das im Fachbegriff „coping“, vom englischen „to cope with“ = „fertig werden mit“. Fachleute haben herausgefunden, dass manche Kinder dazu neigen, aus sich heraus positive Copingstrategien zu entwickeln, sie helfen sich selbst mit für sie günstigen Strategien, das Stottern zu reduzieren oder sich ganz daraus heraus zu arbeiten. Wobei da jedes Kind für sich eine Strategie findet, die quasi nicht auf andere Kinder übertragbar ist. Und auch solche Kinder profitieren von therapeutischer Hilfe. Manche Kinder suchen sich jedoch eher so genannte negative Copingstrategien aus. Dazu gehört auch die Begleitsymptomatik. Sie verlagert zuerst die Problematik, das heißt, es zwinkern zwar die Augen, aber dafür geht das mit dem Sprechen dann flüssiger - und dann verstärkt sie die Problematik aber, denn: die Verbesserung des Sprechens hält nicht an, irgendwann lauert das Stottern wieder genauso stark und das trotz des Augenzwinkerns. Also zwinkert man dann 2x mit den Augen oder nickt zusätzlich mit dem Kopf. Das hilft dann wieder eine Weile, bis auch das sich abnutzt und dann müssen noch mehr Hilfsbewegungen eingebaut werden. Bei solch einer Entwicklung braucht ein Kind therapeutische Hilfe.
Nicht jede Logopädin, nicht jede Sprachheilpädagogin kann Fachfrau in der Behandlung stotternder Kinder sein. Das Tätigkeitsspektrum ist so groß, dass die meisten Kolleginnen sich im Laufe der Berufsjahre spezialisieren. Mittlerweile haben sich etliche Therapeutinnen auf kindliches Stottern spezialisiert. Sie haben z.B. Fortbildungen zu Patricia Sandriesers Behandlungsmethode „KIDS“ (Kinder dürfen stottern) oder Tina Lattermanns „Lidcombe“ besucht, sie haben eigene Erfahrungen mit der Therapie des kindlichen Stotterns gesammelt, so dass sie auch Elemente aus verschiedenen Therapiemethoden individuell für jedes Kind und dessen Eltern zusammenstellen können, sie leisten neben der Therapie der Kinder eine umfassende Elternarbeit und laden die Eltern ein, den Therapien (wenn es passt) beizuwohnen und mitzumachen. Es ist sinnvoll, diese Dinge im Vorfeld bei der zukünftigen Stottertherapeutin anzufragen, auch bei Therapeutinnen von der durch die BVSS erstellten Therapeutenliste.
Liebe Mariachi, Sie haben sich im www ja auch auf die Suche gemacht, weil Sie Ihrem Sohn selbst gerne helfen möchten. Sie können ihn auch unterstützen! Sprechen Sie in einer ruhigen, konzentrierten Situation doch mal an, dass Sie bei ihm hören, dass die Wörter manchmal im Hals stecken bleiben und nicht herauswollen, sagen Sie ihm, dass Sie ihn natürlich trotzdem lieb haben, sagen Sie ihm, dass das vielen Kindern auch so geht und dass er damit überhaupt nicht alleine ist, sagen Sie ihm, dass Sie dabei sind, Hilfe zu finden und dass es Möglichkeiten gibt, dass das Sprechen für ihn wieder leichter wird (nicht sagen, dass das Stottern sicher ganz weggehen wird, denn das weiß ja niemand sicher). Fangen Sie ihn so emotional auf, wie Sie denken, dass er es braucht – Sie kennen ihn am besten.
Falls Sie beim Lesen dieser Zeilen jetzt immer noch denken, es könnte sein, dass Ihr Sohn ein kindliches Stottern hat, dann ist es auch wichtig, dass Sie sich als Eltern informieren und sich aktuelles Wissen zum Thema Stottern aneignen. Der Elternratgeber „Mein Kind stottert – was nun?“ (ISBN 978-3-921897-56-0) ist dafür absolut lesenswert. Die BVSS bietet auch Elternseminare über´s Wochenende an. Während die Kinder gut betreut sind, lernen die Eltern viel zum Thema Stottern und können sich untereinander austauschen. Über den BVSS-eigenen Demosthenes-Verlag kann man auch Vorlesebücher/Ausmalbücher/Mutmachbücher für Kinder erwerben, die sensibel das Thema unflüssiges Sprechen aufnehmen. Haben Sie sich außerdem schon von der BVSS Infoflyer zuschicken lassen? Es gibt einen Flyer für Eltern und auch einen für Lehrer, den man gut in der Schule abgeben kann, wenn es zu einem Austausch über das Sprechen des Kindes in der Schule kommt.
Sie beschreiben Wut und Hoffnung. 2 starke Gefühle, die man als Mutter ja oft hat, während man die Kinder groß zieht – vor allem hat man sie eben dann, wenn etwas nicht reibungslos läuft. Wir vom Fachberaterteam der BVSS möchten Ihnen und allen anderen Betroffenen stark und unabhängig zur Seite stehen, damit Sie alle nötigen Schritte sicher gehen können. Wir hoffen, diese Ausführungen tragen dazu bei. Sprechen Sie uns an, wenn wir noch etwas für Sie tun können.
Die Bundesvereinigung Stotterer-Selbsthilfe e.V. (BVSS) ist die einzige Organisation in Deutschland, die sich unabhängig und bundesweit für die Interessen stotternder Menschen einsetzt. Sie schätzen unsere Arbeit und möchten zum Erhalt unseres umfangreichen Angebots für Betroffene, Angehörige, Fachleute und Multiplikatoren beitragen? Mit einer Spende können Sie die bundesweite Stotterer-Selbsthilfe einmalig oder auch regelmäßig unterstützen.
Alles Gute für Ihren Sohn!
Mit besten Grüßen,
Bettina