Ich bin 18 Jahre alt und besuche die 11. Klasse einer Berufsschule. Mein (situationsabhängiges) Stottern begleitet mich schon seit einigen Jahren. Was der Auslöser war, kann ich nur vermuten:
Am Ende der 4. Klasse fand ein Schulwechsel, von der Grund- zur Mittelschule einer anderen Gemeinde, statt. Das war eine große Umstellung. Der erste Schultag bzw. die ersten Wochen und Monate in der neuen Klasse waren furchtbar. Die Mitschüler kannten sich alle schon größtenteils von den Vorjahren und ich fühlte mich wie das "fünfte Rad am Wagen".

Hänseleien blieben da auch nicht aus. Als "die Neue" ist man eine leichte Zielscheibe. Freunde, die in solchen Situationen hinter einem stehen, hatte ich zu dieser Zeit auch noch nicht gefunden. Ich wusste nicht, warum mich die MitschülerInnen nicht mochten und begann, mich nicht am Unterricht zu beteiligen. Anstatt zu versuchen, Anschluss zu finden, zog ich mich immer mehr zurück.
Das änderte sich erst, als es in der 6. Klasse ein Gespräch mit der Klasse und der Lehrerin gab. Von diesem Tag an hörten die Hänseleien schlagartig auf und ich fand MitschülerInnen, mit diesen ich mich gut verstand. Alle Streitigkeiten waren geklärt. Doch plötzlich kam ich bei mündlichen Aufgaben (z. B. Vorlesen, Gedichte aufsagen oder Referate halten) immer öfter beim Sprechen ins Schwimmen. Zuerst dachte ich, das wäre ein einmaliger Vorgang, dieser sich nicht wiederholen würde - leider war das nicht der Fall.
Nur mit Mühe konnte ich die (sich anbahnenden) Stottersymptome vor den anderen verbergen. Ich wollte nicht, dass es die Lehrer oder gar die Klassenkammeraden merkten - das wäre mir mehr als peinlich gewesen. Damals wusste ich nicht, dass stotternde SchülerInnen das Recht auf einen Nachteilsausgleich haben. Ich konnte mit niemandem über das Problem sprechen - auch meine Eltern wussten lange nicht, wie schwer mir das Reden in stressigen Situationen fiel.
In der 7. Klasse empfand ich ein Gedicht als besonders schlimm. Das darin enthaltene Wort "Sonnenstrahlen" wollte mir schon beim Üben zu Hause einfach nicht flüssig über die Lippen kommen. Ich sprach vorher mit dem Lehrer, dass ich Schwierigkeiten habe, das Gedicht aufzusagen (erwähnte aber nichts vom Stottern). Er holte meine MitschülerInnen einzeln aus der Klasse und jeder sagte es - der Reihe nach - auf. Als letztes kam er auf mich zu und sagte, ich solle einen Stift und einen Zettel mitbringen. Ich war heilfroh, dass mir der mündliche Vortrag erspart blieb. Insofern musste ich es schriftlich abliefern.

In der 8. Klasse gab es ein sogenanntes "Übungsprojekt" (zur Vorbereitung auf den ein Jahr später anstehenden Qualifizierenden Hauptschulabschluss). In Gruppenarbeit mussten wir ein Thema bearbeiten und unsere Ergebnisse anschließend in einer Präsentation darstellen. Den schriftlichen Teil meisterte ich mit Bravour. Bauchschmerzen bereitete mir (mal wieder) der mündliche in Form eines Referats. Nach einer guten Vorbereitung zum Thema "Wie feiert man auf der Welt Weihnachten?", stand ich mit zittrigen Knien, feuchten Händen und erhöhtem Puls, vor meinen Gruppenmitgliedern und den beiden Lehrern. Meine größte Angst: Wie werden sie reagieren, wenn du plötzlich stotterst und keinen Ton mehr sagen kannst?

Der Sprechbeginn war schwierig - und klappte erst beim zweiten Anlauf. Das Stocken und Stolpern zog sich durch den kompletten Vortrag.

Ein Jahr später stand der Abschluss an. Und wieder gehörte eine Projektarbeit mit anschließender Präsentation dazu. Die Zeit des Wartens, bis meine Gruppe (endlich) drankam, war kaum zum Aushalten. Natürlich dachte ich an den vermasselten Vortrag von vor einem Jahr - und hoffte inständig, dass sich dieses Szenario nicht wiederholten würde. Glücklicherweise meisterte ich mein Referat, trotz enormer Aufregung, ohne größere Symptome und wurde belohnt: Ich bestand den Qualifizierenden Hauptschulabschluss als Klassenbeste mit einem Notendurchschnitt von 2,0.

Seit September 2015 mache ich eine Ausbildung zur Medizinischen Fachangestellten und besuche einmal pro Woche eine kaufmännische Berufsschule. Der Klassenlehrer wusste fast zwei Jahre (!) nicht, dass ich stottere. Erst, als ein Referat anstand, ging ich - zusammen mit einer Freundin - den für mich schwersten Schritt seit langem und erzählte von meinem Problem und der (seit Januar 2016 laufenden) logopädischen Behandlung. Der Lehrer reagierte verständnisvoll und wir vereinbarten, dass der Vortrag eher nach dem Inhalt bewertet wurde und nicht danach, wie flüssig ich (in dieser Stresssituation) formulieren kann. Und dass ich nur vorlesen muss, wenn ich mich melde. Die rücksichtsvolle Bewertung des Referats fand ich sehr gut. Auch, dass ich selbst entscheiden kann, wann ich vorlesen möchte, trägt zu einer Verflüssigung meines Sprechens bei. Mit Hilfe der Logopädie werde ich - die erlernte Sprechtechnik - demnächst sicher im privaten, schulischen und beruflichen Alltag, anwenden können.
Ich würde mich freuen, wenn hier vielleicht auch andere Mitglieder über den (offenen) Umgang mit Stottern in der Schule berichten und so ein Austausch entsteht.
Gruß
Nina 1999